Die Reise der Kinder
Der unschätzbare Beitrag von Sanitäts-und Rettungsdiensten
Rund 60 bis 90 Sanitäter*innen mit 20 bis 30 Fahrzeugen aus 8 bis 10 Kreis- und Ortsverbänden des Deutschen und Bayerischen Roten Kreuzes (DRK und BRK) fahren bei jedem Einsatz ehrenamtlich die kranken und verletzten Kinder direkt vom Flughafen in die bundesweiten Krankenhäuser, die im Vorfeld eine Behandlung zugesagt haben. Es sind Personaldirektor*innen, Verwaltungsangestellte, Handwerker*innen – sehr viele Familienväter oder -mütter, die in ihrer Freizeit die Friedensdorf-Schützlinge transportieren.
Sie hören auf die Namen „Holgi“, Stefan, „Borgi“, „Joe“, Martin, „Veldi“ und viele mehr. Einige investieren ihre freien Tage, andere nehmen extra Urlaub und wieder andere holen ihre Arbeitszeit in ihrem normalen Job am Wochenende nach – alle machen es ehrenamtlich und fahren viele Kilometer, oftmals auch Nachts, um die Friedensdorf-Schützlinge an das vorläufige Ziel ihrer Reise zu bringen.
Aus den Bergen Afghanistans
Nehmen wir Sohaila aus den Bergen im Westen Afghanistans. Ein 100 Seelen Dorf, welches eigentlich ausschließlich ihre Großfamilie umfasst, ist seit 7 Jahren ihre Heimat. Eines Tages, als sie gerade Wasser am Fluss holen sollte, fiel sie hin und zog sich eine kleinere Verletzung am Bein zu. Ihr Bein entzündete sich in der Folge und es wurde von Monat zu Monat schmerzhafter.
Sohailas Vater versuchte eine sehr lange Zeit Hilfe bei der nächstgelegenen medizinischen Einrichtung – rund 20 km weit entfernt – zu bekommen. Hierfür sind sie erst mit dem Esel gereist, dann mit einem LKW oder Bus – wer eben gerade bereit war, sie mitzunehmen. Das hat lange gedauert. Einen ganzen Tag. Und die vielen Wintermonate über waren die Pfade so voller Schnee, dass nicht einmal Opas selbstgebauter Schlitten durchkam. Geld zahlen konnte niemand aus der Familie für die Reise und so mussten sie lange warten, bis jemand sie nur mit „Allahs Wünschen“ mitnahm.
Aber auch in der Stadt konnte man ihr nicht helfen und eines Tages floss Eiter aus ihrem Knochen am Bein. Das Kopftuch ihrer Mutter diente als improvisierter Verband. Der Onkel erfuhr über den Mullah der nächstgrößten Ortschaft von dem Afghanischen Roten Halbmond, der seit vielen Jahren Kinder über eine Organisation namens Friedensdorf, zur medizinischen Behandlung nach Deutschland bringt. Mit viel Mühe ist es der Familie gelungen, für Sohaila und ihren Vater eine Reise zum Afghanischen Roten Halbmond in die weit entfernte Hauptstadt Kabul zu organisieren. Diese dauerte 6 lange Tage und Nächte. Nicht nur weil Schnee lag, Straßen durch Kämpfe gesperrt waren sondern auch weil der Vater wegen seiner kaputten Hüfte sie nicht tragen konnte. Als sie dann in Kabul ankamen, überschlugen sich die Ereignisse so schnell, dass Sohaila sich gar nicht mehr an jedes Detail erinnern kann.
Irgendwann saß sie ohne ihren Vater, aber mit sehr vielen anderen Kindern in einem Flugzeug Richtung Deutschland. Alles war organisiert, wirkte eingeübt, sie verstand die Erwachsenen zwar nicht aber alle waren nett. Sie wurde gestützt, als sie auf ihrem kranken Bein die Treppe des Flugzeuges hoch humpelte und das letzte Stück wurde sie auch getragen.
Ankunft am Düsseldorfer Flughafen
Nach vielen, sich unendlich lang anfühlenden Stunden, landete das große Flugzeug dann in Düsseldorf. Erst passierte nichts. Aber dann gingen die Türen auf und es kamen Menschen in gelben oder orange-roten Jacken herein. Alle sprachen diese seltsame Sprache, aber alle lächelten und irgendwie schienen sie zu wissen, was sie tun.
Ein großer starker Mann mit hellen Augen und Haaren nahm dann Sohaila auf den Arm und trug sie nach draußen. Dort waren noch viel mehr Menschen mit diesen orange-roten Jacken und viele gleich aussehende Autos, in die man sich auf eine Art Bett sogar rein legen konnte. Es war so ganz anders als das Brettgestell auf dem Esel am Hindukusch.
Am Auto war eine junge Frau deren Haare aussahen, als wenn die Sonne gerade aufgeht. Sie gab ihr etwas zu trinken, zu essen und etwas Flauschiges, das Sohaila sofort an sich kuschelte. Nur noch erahnen konnte sie, dass auch alle anderen Autos wie eine lange große Schlange vom Flughafen wegfuhren, denn sie war zwar aufgeregt, aber auch sehr müde. Immer wieder wachte das Mädchen auf und bei dem Lächeln der Frau wurde ihr warm und sie fühlte sich nicht so sehr verloren.
Weitere knapp 500 km fuhren die Sanitäter*innen des Deutschen Roten Kreuzes (DRK) vom Kreisverband Ansbach bis sie gegen Mitternacht mit einem völlig erschöpften afghanischen Mädchen in einem Hamburger Krankenhaus ankamen und in der Notaufnahme an die bereits wartenden Ehrenamtlichen und das medizinische Personal übergaben.
So, oder so ähnlich spielt sich die Reise für hunderte Kinder vom Friedensdorf aus rund neun Nationen jedes Jahr ab. Was für neutrale Betrachter routiniert wirken mag, ist eine enorme logistische Leistung, Koordination, sehr viel freiwilliges Engagement und eine hohe Motivation, etwas für Kinder aus Kriegs- und Krisengebieten zu tun.
Viele wollen den Kindern helfen
400 ehrenamtliche Helfer*innen spricht Stefan Nippes (Foto rechts), Leiter operative Dienste, Stv. Kreisgeschäftsführer und Leiter Rettungsdienst vom DRK Solingen vor den Friedensdorf-Einsätzen an. Das Interesse ist sehr groß – oftmals größer als der Bedarf – da immer weniger Krankenhäuser in der Bundesrepublik einer Direktaufnahme zustimmen. Viele Kinder müssen zunächst zur Eingangsdiagnostik ins Friedensdorf. Diese Fahrt wird auf jedem Einsatz von der STOAG der Stadtwerke Oberhausen übernommen. Sie gehören ebenfalls zu den treuen Unterstützer*innen, mit denen die Logistik im Friedensdorf überhaupt erst möglich wird.
„Das ist für uns das schwierigste: das Angebot der ehrenamtlichen Helfer*innen ablehnen zu müssen“.
Aber dies liegt leider nicht in den Händen der Koordinatoren.
Stefan Nippes selber wurde 2006 durch den Friedensdorf-Freund und Fotojournalisten Uli Preuss auf das Friedensdorf aufmerksam. Seither ist er mindestens 50 Fahrten zum Flughafen selber gefahren. Seine Leidenschaft für diese Arbeit wird schnell beim Betreten seines Büros in Solingen deutlich: Ein großes Foto dominiert die linke Wand – ein kranker afghanischer Junge, der in einer Schubkarre zu der Partnerorganisation des Friedensdorfes in Kabul gebracht wird (Foto ganz oben). Aufgenommen hat dieses Foto Uli Preuss, als er 2001 einen Friedensdorf-Einsatz begleitet hat. Kurze Zeit später lässt Stefan Nippes eine Kiste mit Fotos bringen, die sein altes Büro geziert haben – beeindruckende Erinnerungen aus über 10 Jahren Hilfe des Friedensdorfes für Kinder aus Kriegs- und Krisengebieten.
Das Engagement der zahlreichen ehrenamtlichen Helfer*innen rührt ihn nach all den Jahren augenscheinlich immer noch. Er berichtet von vielen treuen Unterstützer*innen, die von ihm beim ersten Einsatz zunächst überredet werden mussten, um sich zu überwinden, das Flugzeug mit Kindern aus Kriegs- und Krisengebieten zu betreten.
„Die Gerüche kennen wir als Sanitäter*innen, aber es ist die Menge von kranken und verletzten Patient*innen und vor allem sind es Kinder!“
Die eine oder andere Träne – so gibt Stefan Nippes zu – drückt auch mal ein* gestandene*r Sanitäter*in nach abgeschlossenem Einsatz ab.
„Bei Ankunft in Deutschland leiden die Kinder noch unter den Folgen ihrer Erkrankungen und Verletzungen. Trotzdem registrieren sie die Helfer*innen, die sie in die Krankenhäuser fahren“,
staunt Manfred Werner, Rettungsdienstfahrer aus dem DRK Kreisverband Ubstadt, der zusammen mit weiteren DRK und BRK Sanitäter*innen im Oktober 2013 zu Besuch im Friedensdorf war. Der damalige Leiter Thomas Jacobs begrüßte die Unterstützer*innen damals mit den Worten: „Man bedarf nicht vieler Worte, um die Philosophie des Friedensdorfes verstehen zu können. Es genügt, auf dem Dorfplatz inne zu halten und die Atmosphäre auf sich wirken zu lassen.“ Damals wie heute ist für alle Beteiligten eines Einsatzes klar: das Engagement der Sanitäts- und Rettungsdienste, ebenso wie der STOAG, des Flughafens Düsseldorf und vielen weiteren Unterstützer*innen verdient größte Anerkennung, denn ohne diese Unterstützung könnte das Friedensdorf die Logistik des Transportes bei einem Einsatz schlichtweg nicht stemmen.
Helfende übernachten im Auto
Wann ein Flugzeug landet, liegt nicht in den Händen der vielen Helfer*innen: da heißt es auch mal nachts um eins aufstehen. Georg und Stefan vom BRK Kreisverband Kirchzell, hinter Aschaffenburg, berichteten, dass sie vor Landung einer Gruppe angolanischer Kinder im November 2016 am Flughafen im Fahrzeug übernachtet haben. Das Treffen der Helfer*innen war bereits für 5 Uhr morgens angesetzt, um die Kinder direkt nach Ende ihrer insgesamt rund 16-stündigen Reise in Empfang nehmen zu können.
Georg ist in den letzten 2 bis 3 Jahren für das Friedensdorf rund 10.000 km gefahren. Zehntausend. Martin Kolbe vom BRK Ortsverband Miltenberg fährt seit 2000 für das Friedensdorf und kommt in der Zeit auf 2.300 Fahrstunden mit insgesamt 144.000 km. Neben Flughafenfahrten sind dies auch Sachspendenfahrten, Unterstützung bei der jährlichen Bürger-Paketaktion, Verlegungen der Kinder von einem Krankenhaus in ein anderes oder Unterstützung beim Pendeldienst während der Friedensdorffeste. Die Zahlen lassen das dahinter stehende Engagement nicht ansatzweise erahnen.
„Oft werden wir gefragt, warum wir das tun“,
berichtet Georg mit seinem sympathischen unterfränkischen Akzent. Seine Antwort auf diese Frage lautet:
„Ich hab doch alles. Es ist gut, dass wir soweit sind, etwas für andere Menschen tun zu können.“
Einfache Worte, hinter denen ein Selbstverständnis voller Mitmenschlichkeit steckt.
One Response
Hofmann andrea
Liebes Friedensdorf Team,
Ich muss vorab erstmal erwähnen das ich zum ersten mal vor drei Wochen erfahren habe das es ein „Friedensdorf“ gibt und was das überhaupt ist.Meine Tochter ALINA hat ein Praktikum im Bamberger Klinikum als Kinderkrankenschwester gemacht,und während dieser Zeit die kleine Claudia kennen gelernt.
Jeden Tag erzählte sie voller Begeisterung von ihrer angolischen kleinen Freundin…wie dankbar Sie über Kleinigkeiten ist wie zum Beispiel ein Buch vorlesen,malen oder eine Katzenwäsche. Ich bin wirklich sehr erschüttert was so ein kleiner Mensch schon alles ertragen musste,und dann ist er auch noch tausende von Kilometern von seiner Familie entfernt.
Sowas bricht mir einfach das Herz…
Ich habe auch schon einige Informationen und Berichte über das Friedensdorf gelesen und ich habe großen Respekt vor ihrer Arbeit ,leider gibt es viel zu wenige Menschen wie sie… Vielen Dank für ihr Engagement!
Ich würde mich sehr freuen wenn ich der kleinen Claudia während ihrer Zeit im Bamberger Krankenhaus irgendwie helfen kann…….daher würde ich mich sehr über eine E-Mail von Ihnen freuen….
Liebe Grüße Andrea Hofmann