Wo Kinder, mit dem Bewusstsein aufwachsen, dass der Bergkarabach-Konflikt jederzeit eskalieren kann
Der Konflikt zwischen Armenien und Aserbaidschan begann schon vor über 100 Jahren. Dieser Zeitraum ist geprägt von wechselseitigen Massakern und Pogromen, auch während des Bestehens der Sowjetunion. 1992, nach dem Zerfall der Sowjetunion, brach der erste Krieg zwischen Armenien und Aserbaidschan um die Zugehörigkeit der Region Bergkarabach aus.
Das bedeutet, dass alle Menschen, die in den letzten dreißig Jahren geboren wurden, mit dem Bewusstsein aufwachsen, dass dieser Konflikt jederzeit eskalieren kann. Für die Jungen bedeutet das vor allem, von klein auf mit dem Bewusstsein aufzuwachsen, dass sie später ihr Land verteidigen müssen.
Die Region Bergkarabach gehört völkerrechtlich seit dem Zerfall der Sowjetunion zu Aserbaidschan, jedoch leben dort hauptsächlich Armenier. Schon seit 1994 sollte es dort offiziell eine Waffenruhe geben, die aber immer wieder gebrochen wurde. Zuletzt kam es im Herbst 2020 zu schweren Kampfhandlungen zwischen Armenien und Aserbaidschan. Der Konflikt wurde sowohl in den Grenzgebieten ausgetragen als auch in der Karabacher Hauptstadt Stepanakert. Es handelte sich um die schwerste Eskalation zwischen diesen Ländern seit Jahren.
Nach wochenlangen schweren Kämpfen um die Region Bergkarabach und nachdem die historisch bedeutsame Stadt Schuscha von Aserbaidschan eingenommen wurde, schlossen beide Länder am 9. November 2020 unter der Vermittlung von Russland ein Waffenstillstandsabkommen. Wie lange die Waffenruhe eingehalten wird, bleibt abzuwarten. Gemäß dem Abkommen musste Armenien drei weitere Gebiete in Bergkarabach (Kalbajar, Aghdam und Latchin) an Aserbaidschan übergeben. Für das armenische Volk, das dieses Land nicht aufgeben will, ist dies ein großer Verlust. Durch die Kämpfe sind über 5.000 Menschen ums Leben gekommen – in den ersten Tagen starben insbesondere viele junge Soldaten. Vor allem für die Kinder ist die Situation schlimm und sie leiden in dem Kriegsgebiet am allermeisten. Denn auch Kinder wurden getötet oder verletzt und viele Kinder werden ohne ihre Väter und Brüder aufwachsen müssen.
Besonders dramatisch ist, dass in diesem 44-Tage-Krieg auch Streumunition und Phosphorbomben gegen die Zivilbevölkerung eingesetzt wurden. Nach dem humanitären Völkerrecht ist der Einsatz von Streumunition unter allen Umständen verboten und auch wir verurteilen den Einsatz dieser Waffen zutiefst. Denn der Abwurf einer Streubombe richtet innerhalb einer möglichst großen Fläche besonders viel Schaden an und führt zu schlimmen Verletzungen.
Auch der Einsatz von Phosphorbomben ist gemäß der Zusatzprotokolle zur Genfer Konvention verboten. Der Kampfstoff durchdringt die Kleidung, kann sich bis in die Knochen einbrennen und verursacht dadurch schwer behandelbare sowie oft tödliche Verbrennungen.
Um die medizinische Versorgung der Menschen – insbesondere der Kinder – aus den armenischen Grenzgebieten und Bergkarabach zu unterstützen, haben wir auf einen Hilferuf der armenischen Partnerorganisation reagiert. Denn in zahlreichen Kliniken, auch in der armenischen Hauptstadt Jerewan, mangelte es an medizinischen Materialien für die Versorgung der betroffenen Kinder und ihrer Familien – angefangen vom Verbandsmaterial bis hin zu Medikamenten. Hinzu kam, dass das Gesundheitssystem aufgrund der andauernden Corona-Pandemie heillos überlastet ist. Daher hat sich unsere Partnerorganisation, die Armenische Kinderassoziation in Jerewan, sehr darüber gefreut, dass wir ihnen fünf Emergency-Health-Kits zur Verfügung gestellt haben. „Jedes Health-Kit versorgt rund 10.000 Menschen medizinisch. Die Health Kits verteilte unser Partner an Krankenhäuser und Kinderstationen in verschiedenen Städten, wo junge Kriegsopfer dringend medizinisch versorgt werden mussten", erklärt Friedensdorf-Leiterin Birgit Stifter.
Vor dem Krieg wohnten in Bergkarabach und in den umliegenden Regionen etwa 148.000 Menschen. Von rund 90.000 Geflüchteten sind inzwischen etwa 50.000 wieder in ihre Heimat zurückgekehrt. Viele suchen aktuell noch immer Schutz in Armenien. Sie haben jedoch meist keine dauerhafte Unterkunft, keinen Arbeitsplatz und keine Perspektive für die Zukunft. Zudem werden noch immer knapp 1.000 Armenier*innen vermisst.
Unser armenischer Friedensdorf-Partner Varuzhan (rechts) nahm die Health-Kits entgegen und verteilte diese an Krankenhäuser und Kinderstationen.
Interview mit unserem Friedensdorf-Partner Varuzhan von der Armenischen Kinderassoziation in Jerewan:
Hast Du damit gerechnet, dass dieser Krieg erneut ausbricht?
Varuzhan: Ja, ich war mir sicher, dass ein erneuter Krieg leider unvermeidbar war. Bei den letzten Treffen der „Minsker Gruppe“ der OSZE hatte sich bereits gezeigt, dass keine Einigung bei dem Konflikt um die Region Bergkarabach in Aussicht war. Zudem wurde viel in die Aufrüstung investiert und durch die Einmischung von Drittstaaten wurde die Bedrohung eines Krieges immer realer.
Wie ist die Situation momentan in Armenien?
Varuzhan: Die aktuelle Situation verspricht nichts Gutes. Nach wie vor werden weitere armenische Territorien an den Grenzgebieten eingenommen. Die Bevölkerung in den Grenzregionen lebt unter ständiger Angst. Täglich fallen Schüsse, Tiere werden gestohlen, Straßen werden gesperrt und Häuser eingenommen.
Wie steht es aktuell um das Gesundheitssystem des Landes, auch im Hinblick auf die Corona-Pandemie?
Varuzhan: Im Vergleich zu der Zeit vor dem 44-Tage-Krieg ist die medizinische Situation und die Versorgung für die Menschen deutlich schlechter geworden. Die Covid-19 Zahlen sinken momentan, wenn wir diese mit den Zahlen während des Krieges vergleichen. Die Neuansteckungen liegen täglich bei ca. 100 bis 200 Fällen und etwa 3 bis 7 Menschen sterben pro Tag.
Wie und wo konnten die Health Kits bei der medizinischen Versorgung Abhilfe schaffen?
Varuzhan: Die Health Kits, welche wir vom Friedensdorf erhalten haben, wurden im ganzen Land verteilt. In Yerevan und Gyumri wurden sie auf die Kinderkliniken verteilt, in weiteren Regionen ging die Hilfe an verschiedene gesundheitliche Institutionen. Die Health Kits waren eine große Hilfe in dieser schwierigen Zeit. Alle waren dankbar und froh, diese Hilfe zu bekommen.
Welche Bevölkerungsgruppen sind besonders betroffen von dem Krieg und dem immer wieder aufkommenden Konflikt?
Varuzhan: Unter der Bombardierung haben die Dörfer und die Städte in Karabach sehr gelitten. Dort ist es zu großen Schäden gekommen. Vor allem die Wohnhäuser, Krankenhäuser und die Schulen in Stepanakert sind unter heftigen Beschuss geraten. Im Krieg ist das einfache Volk – die Menschen – immer die größten Leidtragenden. Viele Eltern suchen weiterhin ihre Kinder, die im Wehrdienst waren und in den Krieg ziehen mussten. Sie sind entweder tot oder in Kriegsgefangenschaft in Aserbaidschan. Es gibt noch über 160 Gefangene, die von Aserbaidschan bisher nicht freigelassen werden.
Wie geht es den zehntausenden Menschen aus der Region Bergkarabach, die während des Krieges nach Armenien geflohen sind und was wird jetzt aus ihnen?
Varuzhan: Die Menschen konnten nur mit viel Mühe und Glück fliehen, um nicht ebenfalls gefangen zu werden. Sie sind obdachlos geworden, haben ihre Häuser und ihre Heimat verloren. Einige wenige von ihnen, sind nach dem Krieg nach Karabach zurückgekehrt. Der Großteil der Geflohenen ist aber nach wie vor in Yerevan und anderen Städten oder Dörfern in Armenien – hauptsächlich bei ihren Verwandten – untergekommen. Die Regierung verspricht, neue Häuser für sie zu bauen. Russland hat den Geflohenen aus Karabach zudem russische Pässe versprochen.
Hintergrund:
Friedensdorf International begann 1992 seine Arbeit in Armenien in Kooperation mit der Armenischen Kinderassoziation und holt seit 1994 Kinder zur Behandlung nach Deutschland. 1996 fand die erste Bürger-Paketaktion in Armenien und Bergkarabach statt. 2003 begann mit einer Anschubfinanzierung die Errichtung eines eigenen Standortes des Projektpartners. 2005 wurde ein vom Friedensdorf unterstütztes Reha-Projekt in Betrieb genommen, das in den Folgejahren ausgebaut wurde. Auch die Hilfsgüter-Lieferungen sowie die Einzelfallhilfe wurden ausgebaut. Mittels finanzieller Unterstützung der Deutschen Botschaft in Jerewan wurden die Räumlichkeiten des Projektes renoviert. Die Armenische Kinderassoziation führte ihre Arbeit in dieser Zeit fort und erweiterte anschließend ihre Projektaktivitäten. Seit 2010 finanziert Friedensdorf International ein umfangreiches Rehabilitationsprogramm für Kinder mit schweren Behinderungen, die aus sehr armen Familien kommen, zusätzlich innerhalb der häuslichen Pflege. Auch dieses wurde fortlaufend ausgebaut. Über die gemeinnützige Organisation „Labdoo“ wurden 2014 gebrauchte und wiederaufbereitete Laptops bereitgestellt, die armenische Kinder zu Lernzwecken nutzen. 2015 erfolgte eine vom Friedensdorf finanzierte Erweiterung mit einem Schwimmbecken innerhalb des Reha-Zentrums, wo Wassertherapie für Kinder mit Behinderungen angeboten wird. Zudem finanzierte Friedensdorf International ein neues Projektfahrzeug für die armenischen Partner. 2017 wurden die armenischen Partner auch mit Mitteln für lebenserhaltende wichtige Operationen unterstützt, von denen in den Folgejahren Kinder mit unterschiedlichen Erkrankungen behandelt werden konnten.
Schreibe einen Kommentar