Zu den Kindervorstellungen in Kabul kamen viele Kinder mit offenen Wunden, die entweder gar nicht oder nur notdürftig verbunden waren (Foto: André Hirtz/ FUNKE Foto Services).
„Wie soll es erst im Winter aussehen?“
Kabul 2022, ein Jahr nach der Machtübernahme der Taliban. Ein Friedensdorf-Team war damals vor Ort und bekam die Ereignisse hautnah mit. Seitdem konnte die Hilfsorganisation zwei Hilfsflüge für kranke und verletzte Kinder aus Afghanistan durchführen. Vom 12. bis zum 21. August flog nun erneut eine Delegation von Friedensdorf International, in Begleitung des Journalisten Jan Jessen und des Fotografen André Hirtz, nach Afghanistan, um vor Ort eine Gruppe von etwa 50 Kindern vorzubereiten. Diese sollen mit einem Hilfsflug im November für eine medizinische Behandlung nach Deutschland gebracht werden. Auch die Projektarbeit vor Ort soll ausgeweitet werden. Erst kürzlich konnten zwei Brunnen, in Kundus und in Jalalabad, gebaut werden. Nun besichtigte die Delegation einen der Brunnen und auch den Ort in Herat, in dem ein neues Brunnenbauprojekt geplant ist. Dabei bestätigten sich die Befürchtungen des Friedensdorfes, ein Land vorzufinden, das sehenden Auges auf eine Katastrophe zusteuert.
Medizinische Versorgungslage katastrophal
Zu den Kindervorstellungen in Kabul kamen Kinder, deren gesundheitlicher Zustand fassungslos macht: Zentimeterlange, offene Wunden, die – wenn überhaupt – nur notdürftig mit schmutzigen Verbänden gebunden sind. Bei vielen Kindern haben sich über lange Zeit schmerzhafte Knochenentzündungen gebildet. Der Eiter läuft ihnen aus dem Bein, in einigen Fällen liegen die Knochen offen. Diese Verletzungen würden in Deutschland schon im Anfangsstadium oder akut im Krankenhaus behandelt werden. Den afghanischen Mädchen und Jungen aber stehen nicht einmal Schmerzmittel zur Verfügung. „Die Kinder befinden sich in einem erschütternden Zustand“, erklärt Friedensdorf-Mitarbeiterin Birgit Hellmuth, die vor 30 Jahren zum ersten Mal einen Hilfsflug nach Afghanistan begleitete. „Mit jedem Mal wird die medizinische Situation schlimmer, die Krankheiten und Verletzungen gravierender. Wir möchten es uns nicht ausmalen, wie die Kinder bei unserem nächsten Besuch im November aussehen werden.“ Dass die Kinder in ihrem Zustand Tage und Reisen durch das ganze Land auf sich nehmen, weil sie im Friedensdorf-Büro die einzige Chance auf ein gesundes Leben sehen, ist beinah unvorstellbar.
Die desolate medizinische Mangellage zeigt sich auch im Sozialprojekt „Marastoon“ in Jalalabad, 150 Kilometer östlich von Kabul gelegen. In dem vom „Afghanischen Roten Halbmond“ betriebenen Projekt leben etwa 200 Waisen und 37 alleinerziehende Mütter, die nicht die Möglichkeit haben, sich eigenständig zu versorgen. Ihnen wird eine Unterkunft gegeben und den Frauen die Teilnahme an einem Ausbildungsprogramm als Näherin ermöglicht. Durch den neuen Brunnen, den das Friedensdorf finanziert hat, ist die Trinkwasserversorgung auf dem Gelände des Projektes gegeben. Doch die restlichen Teile des Gebäudekomplexes sind marode, in den Küchen besteht massive Verletzungs- und Verbrennungsgefahr. Auch der äußerliche Zustand der (Waisen-)Kinder hat das Friedensdorf-Team sehr erschüttert. Sie sind verwahrlost und in einem sehr schlechten Allgemeinzustand. Gerne würde die im „Marastoon“-Projekt tätige Ärztin den Kindern eine bessere Versorgung ermöglichen, doch es fehlt schlichtweg an den notwendigen Medikamenten.
Die Friedensdorf-Delegation besuchte das "Marastoon"-Projekt in Jalalabad (Foto: André Hirtz/ FUNKE Foto Services).
Zurück in Kabul: Die Friedensdorf-Delegation besuchte eine Schule, die von etwa 1000 Schülern besucht wird. Hier werden Mädchen und Jungen getrennt unterrichtet. Zum Kontakt kommt es trotzdem, nämlich auf dem Pausenhof. Eine Lehrerin erzählt dem Friedensdorf-Team: „Die Erstherrschaft der Taliban war eine andere. Damals, so haben es mir meine Eltern erzählt, konnte man als Frau überhaupt nicht auf die Straße gehen, schon gar nicht ohne männliche Begleitung. Auch ein Schulbesuch war komplett undenkbar. Heute dürfen die Mädchen immerhin bis zur sechsten Klasse zur Schule gehen. Wir haben die Hoffnung, dass die Taliban Schritt für Schritt immer ein weiteres Schuljahr erlauben werden.“
Ein letztes Etappenziel war für das Friedensdorf-Team die Stadt Herat, unweit der Ländergrenzen zu Turkmenistan und dem Iran. Hier plant der Rote Halbmond einen Ausbau seines „Marastoon“-Projektes, in dem auch Alleinerziehende und Waisen ein Zuhause auf Zeit finden sollen. Auch auf diesem Gelände soll ein neuer Brunnen entstehen, der über tausend Waisen und Frauen versorgen soll, gefördert durch das Friedensdorf. Wann das gesamte Projektgelände fertig gestellt wird, ist zurzeit noch unklar. Nach Besichtigung des zukünftigen Bauplatzes wurde das Friedensdorf-Team durch eine hiesige Einrichtung geführt, die mit 250 Patienten und Patientinnen die größte Einrichtung für psychisch kranke Menschen darstellt. Unter den etwa 200 Männern sind viele ehemalige Soldaten, die schwerst traumatisiert wurden und nun in Herat ihr Dasein fristen. Für die 250 Männer und Frauen sind ein Arzt und ein Krankenpfleger zuständig. Aufgrund der westlichen Sanktionen, durch die Afghanistan von dem Zugang zu finanziellen Hilfen abgeschnitten ist, kann der Rote Halbmond nicht besser für diese Menschen sorgen. Der Besuch dieser Einrichtung in Herat war für das Friedensdorf-Team der mit Abstand prägendste – und erschütterndste. „Dieser furchtbare Ort ist ein Mahnmal“, sagt Claudia Peppmüller. „Er hat uns noch einmal gezeigt, was der Krieg aus Menschen machen kann.“
In der psychatrischen Einrichtung in Herat sind neben einer Gruppe Frauen auch circa 200 Männer untergebracht.
Sie alle haben Traumatisches im Krieg erlebt (André Hirtz/ FUNKE Foto Services).
Wirtschaftliche Lage wird immer aussichtsloser
Ebenso katastrophal wie die medizinische Versorgung ist die wirtschaftliche Lage des Landes. Millionen Menschen sind von Hunger bedroht. Es gibt kaum noch Arbeit. Wie das Friedensdorf-Team erfährt, müssen zehnköpfige afghanische Familien manchmal mit umgerechnet 30 Dollar im Monat über die Runden kommen. Die wirtschaftliche Lage wird zusätzlich durch die Folgen des Klimawandels beeinflusst: Eine nie dagewesene Dürre beherrscht das Land. Wenn es dann einmal regnet, fällt Wasser wie in Sturzbächen vom Himmel und reißt Häuser und Straßen mit sich. Auf dem Weg nach Jalalabad erfuhr das Friedensdorf-Team von 25 Toten, die es kurz zuvor im Zuge einer Überschwemmung gegeben hatte. Mittlerweile haben die andauernden Fluten zahlreiche Todesopfer gefordert. Nach dem verheerenden Erdbeben in den Regionen Paktika und Chost im Juni, nach denen das Friedensdorf zwei Health Kits und Lebensmittel in die Region schickte, gibt es immer wieder kleinere Nachbeben. Millionen Menschen sind aufgrund der katastrophalen Versorgungslage bereits ins Ausland geflohen. Vor allem Ärztinnen und Ärzte, Pflegepersonal und junge, gut ausgebildete Menschen sehen in ihrer Heimat keine Zukunft mehr. Die Abwanderung ist ein großes Problem für diejenigen, die zurückbleiben. Dieser Perspektivlosigkeit blicken in Afghanistan auch circa 14 Millionen Kinder entgegen.
Das Friedensdorf ruft zur Hilfe auf
Die Menschen in Afghanistan, so erlebt es das Friedensdorf-Team vor Ort, versuchen selbst in dieser desolaten Lage, die Hoffnung auf bessere Zeiten zu wahren. Doch es gibt eines, vor dem die Bevölkerung große Angst hat: „Wir haben mit vielen Menschen aus verschiedenen Regionen gesprochen und sie alle haben uns eines erzählt: Sie haben unglaubliche Angst vor dem kommenden Winter“, erzählt Friedensdorf-Leiterin Birgit Stifter. „Die Menschen wissen jetzt schon kaum, wie sie überleben sollen. Wie soll es dann erst im Winter aussehen?“.
Die Menschen und besonders die Kinder in Afghanistan benötigen dringend Unterstützung. Wenn Sie das Friedensdorf bei seiner Hilfe für Afghanistan unterstützen möchten, können Sie unter dem Stichwort „Afghanistan“ auf folgendes Konto spenden: Stadtsparkasse Oberhausen, IBAN: DE59 3655 0000 0000 1024 00, SWIFT-BIC: WELADED1OBH.
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