Text: Jan Jessen, Funke Medien. Veröffentlicht am 2. Mai 2025
Das kleine Mädchen sitzt verschüchtert auf dem Bett, das Gesicht halb bedeckt mit Watte, die Arme verbunden, in einem steckt eine Kanüle. Die vereiterte Mundpartie lässt erahnen, wie schlimm es unter den Verbänden aussieht. Erst vor ein paar Tagen hat sie sich an einem Öl-Ofen verbrannt, sie hat fürchterliche Schmerzen. Die Helferinnen vom Friedensdorf sind entgeistert. In Deutschland würde Eptisam wahrscheinlich auf der Intensivstation liegen. In Nordostsyrien ist sie von einer Pflegerin notdürftig in ihrem Elternhaus versorgt worden. Das Mädchen braucht Hilfe. Sofort. Die Entscheidung fällt schnell: Die Vierjährige wird am nächsten Tag auf Kosten des Friedensdorfes operiert.
Am Tag zuvor rumpelt ein Minibus über eine behelfsmäßige Pontonbrücke über den kleinen Fluss, der den Nordirak vom Norden Syriens trennt. An Bord: Birgit Stifter, Leiterin des Friedensdorfes aus Oberhausen, Kommunikationschefin Claudia Peppmüller, Intensivpflegerin Simone Zeh und Michael Wilk, ein Notfallmediziner aus Wiesbaden, der schon häufig in Syrien war. Für die Frauen ist es die erste Reise in das Land.

Es ist eine Mission, die über viele Monate vorbereitet wurde. Die Helferinnen aus Oberhausen wollen sondieren, ob sie in Syrien arbeiten und Unterstützung leisten können. Die Gegend kennen sie. Seit drei Jahren holt das Friedensdorf Kinder aus der autonomen Region Kurdistan im Nordirak zur medizinischen Behandlung nach Deutschland. Nordostsyrien ist aber eine andere Welt. Ärmer, instabiler, heimgesucht von ständigen militärischen Auseinandersetzungen.
Sicher ist hier nichts: Als die Reiseplanungen begannen, war Langzeitdiktator Assad noch an der Macht. „Niemand weiß, was die Zukunft bringen wird. Wir müssen auf Sicht fahren“, sagt Claudia Peppmüller schon im Bus. Das Ziel der Helferinnen ist Qamischlo, eine Großstadt etwa zweieinhalb Stunden entfernt von der Grenze, der Verwaltungssitz der kurdisch dominierten Regierung im Nordosten Syriens. Hier hat der kurdische Rote Halbmond sein Hauptquartier, die lokale Hilfsorganisation, mit der das Friedensdorf kooperieren will.
Einen Eindruck von der prekären Lage bekommen die Frauen bereits auf der Fahrt. Die Felder links und rechts der Straße sind ausgetrocknet, es hat lange nicht mehr geregnet. Die Dörfer und Kleinstädte sind staubig, voller Abfall. Auch in Qamischlo selbst wird schnell klar, dass der Unterstützungsbedarf enorm ist. In den vergangenen Monaten sind Zehntausende neue Flüchtlinge in die Region geströmt. Sie haben sich vor Angriffen der türkischen Luftwaffe und islamistischen Milizen, die Ankara als Bodentruppen gegen die Kurden nutzt, gerettet.
„Wir haben nichts mehr außer der Kleidung an unseren Körpern“, klagt ein alter Mann, der mit seiner Familie Unterschlupf in einem Rohbau gefunden hat. Die Familie ist bereits zum zweiten Mal geflohen, erst aus Afrin im Nordwesten des Landes, dann aus aus Tel Rifaat. „Niemand unterstützt uns, die Kinder können nicht zur Schule gehen.“ Im Winter haben sie Schuhe verbrannt, weil sie kein Gas oder Öl hatten, um kochen zu können.
Birgit Stifter und den anderen Frauen fällt es angesichts der Not schwer die Fassung zu bewahren. „Das ist alles sehr bitter, es ist unfassbar, was diese Menschen durchmachen müssen“, sagt Stifter. In einem Operationssaal des völlig heruntergekommenen staatlichen Krankenhauses hält Simone Zeh die Luft an, als sie hört, dass in dem Raum noch an diesem Morgen ein Patient operiert wurde. „Unvorstellbar“, sagt sie.
Im Hauptquartier des Roten Halbmondes sehen die Friedensdorf-Mitarbeiterinnen an zwei Vormittagen kleine Patientinen und Patienten. Viele haben schwere Verbrennungen erlitten. Nada, 13, hat vor drei Jahren Feuer gefangen, als ein Gasofen explodierte. An den Kniekehlen hat sie Verwachsungen, sie kann ihre Beine nicht mehr richtig bewegen. Als das Mädchen einen schmutzigen Verband von ihrem Unterschenkel nestelt, wimmert sie vor Schmerzen. Die Wunde darunter ist noch immer nicht verheilt und schwer entzündet. „Wir können uns keine Operation leisten“, sagt ihr Großvater. Die Familie arbeitet in der Landwirtschaft. In diesem Jahr ist die Ernte ausgefallen. In dem Dorf, aus dem sie kommen, gibt es keinen Strom, kein Wasser. Um zu überleben, müssen sie Wasser kaufen, das mit Tankern angeliefert wird.
Andere Familien erzählen, dass sie ihre Häuser oder ihre Autos verkauft haben, um ihre Kinder medizinisch versorgen lassen zu können. Bei einem monatlichen Durchschnittsverdienst von 70 Euro sind Operationskosten von 1000 Euro und mehr astronomische Summen. Für diese Menschen sind die Helferinnen aus Deutschland die letzte Hoffnung. Es wird klar: Aus der Sondierungsmission muss vor Ort sofort konkrete Hilfe werden. „Wir müssen etwas unternehmen“, sagt Birgit Stifter.
Die Friedensdorf-Mitarbeiterinnen beschließen, mit einem örtlichen Chirurgen zu kooperieren, der die Kinder in privaten Krankenhäusern operieren soll. Die Kosten trägt die Hilfsorganisation. Das eigentliche Konzept der Hilfsorganisation ist, Kinder zur Behandlung nach Deutschland zu holen. Aber in Nordostsyrien ist die politische Lage so instabil, dass es riskant wäre, die Kinder auszufliegen. Was, wenn sie nicht mehr zu den Eltern zurückkehren können?

Außerdem ist das Friedensdorf neu vor Ort. Anders als in Afghanistan, wo über Jahrzehnte Vertrauen aufgebaut wurde, kennen die Eltern die deutschen Helferinnen nicht. Der Vater eines kleinen Jungen schüttelt mit dem Kopf, als der syrische Chirurg ihn fragt, ob er sich vorstellen könne, sein Kind alleine nach Deutschland reisen zu lassen. „Das kann er nicht. Er schläft jede Nacht in meinen Armen. Er braucht mich.“
